Zum Aus- und Einklappen: Wohnlandschaft mit Teeküche Die kreative Berliner Urbanistenszene präsentiert Ideen für die Großstadt Von Gunnar Luetzow Auch wenn man es angesichts der Stadtentwicklungspolitik nicht glauben will - Berlin hat sich auf Grund seiner vielen ungenutzten Areale und Gebäude in den letzten Jahren zu einem der internationalen Zentren der Diskussion ¸ber intelligente Nutzungen des städtischen Raums entwickelt. Da es in Berlin eine Tradition der stadtbürgerlichen Einmischung in diese Prozesse gibt, verwundert es nicht, dass man inzwischen sogar unterschiedliche Sub-Szenen in den beteiligten Kreisen entdecken kann. Die stark an Themen wie Globalisierungskritik und Privatisierung orientierte Gruppe um den Kritiker und Kuratoren Jochen Becker ("Space // Troubles") und den Urbanisten Stephan Lanz ("Die Stadt als Beute") präsentiert ihren Blick auf die Stadt als einen von nahezu militärischen Konflikten, Schattenökonomie und kolonialistischer Hegemonie geprägten Ort in der nur noch heute zu besichtigenden Ausstellung "learning from*" in der Kreuzberger NGBK. Achtzehn Künstler, Theoretiker und Aktivisten zeigen mit Architekturmodellen, Fotografien, Installationen, Videos und Internet eine Welt, die ihnen nicht gefällt. So erweist sich zum Beispiel der von westlichen Beobachtern gern als quirlig und multikulturell wahrgenommene Alltag der mobilen Gastro-Dienstleister in Mumbai/Bombay am Beispiel der "Dabba Wallas" von innen betrachtet als existenzielles "Rennen um den Arbeitsplatz": Als Computerspiel sehr spielerisch und dennoch ernsthaft umgesetzt, wird der Auslieferer nicht nur von kalt gebliebenen Küchen und sonstigen Missgeschicken, sondern auch von der globalen Fastfood-Konkurrenz bedroht. Weitere Arbeiten thematisieren in verschiedener Form Belfast: So dokumentieren Andree Korpys und Markus Löffler die "Fighting City" in Ruhleben, in der sich einst die Briten auf den Häuserkampf vorbereiteten. Wie John Duncan in seiner Fotoserie "Boomtown" zeigt, geht es dort inzwischen um ganz andere, vermeintlich zivilisierte Formen der Landnahme - doch Aufnahmen aus den Siebzigern, die Personen an Checkpoints zeigen, erinnern den kritischen Betrachter natürlich an die zeitgenössische Praxis der "gated communities", wie sie in London bereits alltäglich sind. Weitere Arbeiten beschäftigen sich mit den neuen Vermarktungsstrategien von Johannesburg, der Sicherheitspolitik in Wien und der Problematik der in Istanbul verbreitet "über Nacht" entstandenen Neubauten. Die Grenzen zwischen informellen und etablierten Strukturen sind dabei fließend. Ebenfalls ein gutes Beispiel für den ständigen Fluss, in dem sich Architektur und Gesellschaft befinden, ist der Ort, an dem die Berliner Kuratorin Francesca Ferguson ("Urban Drift") die Ausstellung "Transformers" entwickelt und realisiert hat: Das "Bikini-Haus" an der Budapester Straße. Einerseits soziale Problemzone, andererseits Shopping-Zentrum - dessen Charme jetzt von jungen Architekten entdeckt wird. Hier geht es auf den ersten Blick weniger direkt politisch zu als in Kreuzberg. Auch ist dem von Studenten der TU Cottbus entwickelten Kubus, der sich beim Ausklappen als dekonstruktivistische Wohnlandschaft mit Teeküche, Bewegungsmelder und Mediathek entpuppt, ein Platz in einem Mitte-Luxus-Loft sicher. Doch auch "Transformers" zeigt an Beispielen in Halle-Neustadt, London, Berlin, Brüssel, Athen, Mexico City und Sevilla mit subversivem Charme Lösungen für einen kleinen Planeten. Und stellt die richtigen Fragen: "Welche Dinge würden Sie sich vom Nachbarn borgen? Welches Gebäude hat ihr Leben maßgeblich beeinflusst? Welche Strategien finden Sie angebracht, um Platz in der Büroumgebung zu okkupieren?" Dass Berlin allerdings weiterhin ein derart offener Ort bleibt, um in der derzeit gebotenen Vielfalt und Qualität theoretisch und praktisch über Stadt nachzudenken, kann bezweifelt werden: Das von der EU geförderte Berliner TU-Projekt "Urban Catalyst" hat n‰mlich inzwischen ebenfalls die Möglichkeiten entdeckt - und liefert unter dem Deckmantel der kreativen Zwischennutzung schnˆde Fallstudien und Optimierungspläne. "Transformers: pirated spaces - informal architecture" bis 26. Oktober, Bikini-Haus, Budapester Straße 48, Charlottenburg, Tel.: 25 75 71 86 Berliner Morgenpost, vom: 17.10.2003 |