»Learning from*«
Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation

Maren Richter

Neue Gesellschaft für
Bildende Kunst Berlin
13.9.2003 - 17.10.2003



Auf die Frage, »Was ist die globale Stadt?«, wird in der Ausstellung »Learning from*« nicht in Saskia Sassens Sinn von neuen Knotenpunkten vorbildlicher transnationaler Handels- und Netzwerkgesellschaften ausgegangen. Vielmehr geht es um einen Gegenentwurf, vor allem zur »europäischen Stadt« als traditionellem »Exportmodell«, das Phänomene aufweist, die zwar durchaus »normal«, aber abseits einer repräsentativen Praxis existieren. Die europäische Stadt ist – als Ausgangspunkt dieser These – ein überholtes politisches und ideologisches Projekt, das programmatische Klassengegensätze hervorhob und dies noch immer tut. Ihr wird der »globale Süden« (gelabelt unter anderem durch Chaos und Armut) gegenübergestellt. Die beiden Modelle sind allerdings nicht in einem »Hier« und »Dort« lokalisierbar, so der Untersuchungsrahmen der einzelnen Beiträge, sie befinden sich vielmehr in einer Art Überlagerungszustand. Anhand des Modus »Lernen« hinterfragt das Projekt die aktuelle Bewertungsagenda, in der informelle, zu Überlebensstrukturen aller Art umfunktionierte Nischenräume den »zivilisierten« Formen kommerzialisierter bzw. privat kontrollierter Systeme gegenüberstehen. 16 Projekte von KünstlerInnen, ArchitektInnen und TheoretikerInnen thematisieren die sozialen Überlebens- und die daraus notwendigen Organisationsformen in unterschiedlichen urbanen Zentren wie Belfast, Berlin, Warschau, Istanbul, Lagos, indem sie ihren »globalen« Bemessungsgrundlagen anhand der Alltagspraxen räumlicher und unternehmerischer Aneignungsstrategien nachgehen. Stichwörter wie Selbstorganisation, informelle Ökonomie, Tauschprinzipien oder territoriales Wachstum bezeugen jene Strategien, die sich in globalen, wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Schattenbereichen bewegen.

»Learning from*« bündelt Informationen durch multiple Perspektiven und lässt sie zu einem dichten Beziehungsnetz zusammenfließen. So weist die eigentlich lokalspezifische Frage nach der (Un-)Sichtbarkeit polnischer Communities in Berlin, welcher die Dokumentarfilmreihe »ES Express« von Micz Flor, Merle Kröger, Philip Scheffner und anderen im Gespräch zwischen polnischem Sozialrat und der türkischen Künstlerin Gülsün Karamustafa nachgegangen ist, methodische Verstrickungen auf, die nach Istanbul reichen, wo russische Händler seit den Neunzigern ihre (inzwischen chinesischen) Waren verkaufen, von dort wiederum billige türkische Textilien nach Russland schmuggeln, die dann eventuell am russischen Markt in Warschau offeriert werden, wo auch Minze Tummescheits filmisches Porträt »Jarmark Europa« über zweier Händlerinnen startet. Illegale Erwerbsformen, die als Modell kreativer Arbeitsschaffung gelten, ziehen zugleich die Frage der Prekarisierung dieses Feldes nach sich, da sie einerseits aus der Diskussion zur »Krise der Normalarbeitsverhältnisse« (Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf im Katalog »Die Informalisierung des urbanen Raums«) ausgeschlossen, aber andererseits von neoliberalen Konzepten der Selbstverantwortung übernommen werden. Den Übergang zur Inbesitznahme und Selbstorganisation von Land recherchierte Margareth Otti anhand des von SFOR-Truppen gegründeten »Arizona«-Schwarzmarktes in Nord-Bosnien und dessen Status als Arbeitgeber und Sozialstruktur. Der ökonomische Erfolg des Marktes hat mittlerweile die Regierung zum Bau einer Mall motiviert. Die mit solchen Legalisierungsmaßnahmen einhergehenden Probleme ortet der Beitrag »Güvenlik« (dt. Sicherheit) von Martin Kaltwasser und Folke Köbberling, nämlich dort, wo gezielt gesteuerte Stadtplanung fehlschlägt und informell entstandene Stadtteile unterbunden werden.

Das Modell Stadt ist regulativ und exklusiv: Es verortet Transport und Mobilität als Privilegienstruktur (so Orhan Esens performative Erkundung des privat organisierten Personenverkehr in Istanbul; oder Shilpa Guptas als Videogame konzipierte Arbeit über den informell organisierten Lunchlieferservice von der Peripherie in die City von Bombay) und hält seine Kontrollinstanzen, wie Michael Zinganel anhand von Archivbildern aus Wien um 1900 zeigt, wenn notwendig mit militärischer Korrektur bis heute aufrecht (dargestellt in Andree Koryps und Markus Löfflers Fotoserie über Berlin, Ruhleben, eine künstliche, zu Militärzwecken errichtete »Fighting City«). Die historische Lernunfähigkeit des mythenbeladenen Regulationsapparates belegt darüber hinaus der simple Verweis auf die Afrika-Konferenz 1884, in der die europäischen Kolonialstaaten Afrika untereinander aufteilten.

Die Show zeigt, und dies tut sie mit präziser Betonung, dass die unternehmerische Stadt binär kodiert ist und kaum mehr unter einer hierarchischen Bewertung von Ordnung und Chaos kontextualisiert werden kann. Möglich wird dies erst durch eine kritische Gegenüberstellung von realen, kleinen Formen und dem phantasmagorischen »großen Ganzen«, von dem ausgehend akute Themenblöcke wie urbane Entwicklung, transnationale Sozialdebatten und postkoloniale Perspektiven erst eine Chance bekommen, diskutierbar zu werden.


Arbeitsgruppe Learning from*: Jochen Becker, Claudia Burbaum, Martin Kaltwasser, Folke Köbberling, Stephan Lanz, Katja Reichard. Jochen Becker et al. (Hg.): Learning from* – Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation, Berlin (NGBK) 2003